Andreas Lipkow, Marktexperte und Moderator des comdirect Markt-Updates, lächelt in die Kamera.

"Es wird ein hartes
erstes Halbjahr 2023"

Ausläufer der Corona-Pandemie, geopolitische Krisen und die höchste Inflation seit Jahrzehnten – das vergangene Jahr war auch aus Anlegersicht äußerst schwierig. Wie geht es 2023 weiter, gibt es krisenfeste Branchen – und was passiert eigentlich mit dem Goldpreis? Andreas Lipkow, Marktexperte und Moderator unseres comdirect Markt-Updates live auf YouTube, gibt Antworten.

Krieg, Krise, Inflation – 2022 war ein aus vielerlei Hinsicht bewegtes Jahr. Wie bewerten Sie das abgelaufene Börsenjahr?

Es war mit Sicherheit eines der schwierigsten Börsenjahre seit Jahrzehnten. Ein Blick auf die Performance der Assetklassen reicht aus: Sie haben allesamt schlecht abgeschnitten. Das lag vor allem an den vielen Überraschungsmomenten, wie dem Ukraine-Krieg, seinen Auswirkungen und den Antworten der Notenbanken auf die hohe Inflation. Für viele Marktteilnehmer war der Markt einfach nicht mehr greifbar.

Dabei muss man auch berücksichtigen, dass wir aufgrund der Geldpolitik seit 2007 eine Sondersituation an den Finanzmärkten haben, die sich nun umkehrt. Viele aktive Anleger haben damit keine Erfahrung, auch wenn sie seit mehr als zehn Jahren mit dabei sind. Genau das hat sich im letzten Jahr extrem entladen und das hat sich ganz klar bei den Aktien und natürlich auch bei den Anleihen gezeigt.

In Deutschland gibt es so viele Aktienbesitzer wie noch nie – und selbst Profis werden durch die umgekehrte Situation wieder zu Neulingen. Welche Tipps geben Sie den derzeitigen Marktteilnehmern?

Es gibt zwei wesentliche Fragestellungen, aus denen sich private Investoren eine Strategie ableiten können: Wie viel kann und will ich investieren? Welches Risiko bin ich bereit einzugehen? Beides ist essenziell, um langfristig an den Märkten bestehen zu können. Wenn Anleger ihr Risiko- und Moneymanagement für sich justiert haben, können sie an den Börsen nachhaltig Rendite erzielen. Vorausgesetzt, sie verfolgen einen langfristigen Horizont und agieren nicht emotional.

Deshalb ist für viele Anleger das Algo-Investing, also eine digitale Vermögensverwaltung, von großem Wert. Sie greift auf einen intelligenten Algorithmus zurück, der Geld objektiv und frei von Emotionen anlegt. Das Portfolio wird regelmäßig überprüft und bei Bedarf automatisch angepasst. Private Investoren neigen eher dazu, sich von Gefühlen leiten zu lassen – bei Verlusten greift oft das Prinzip Hoffnung, bei Gewinnen kann die Gier ins Spiel kommen.

Wie bewerten Sie die ersten Wochen im Jahr 2023 und was erwarten Sie von den kommenden Monaten?

Es ist leider nicht so, dass mit dem neuen Jahr alle Probleme an den Märkten verschwinden. Vielmehr werden sie die Märkte im ersten Halbjahr weiterhin begleiten. Die Zinsfrage, die drohende Rezession, die Inflation und natürlich die geopolitische Situation wirken sowohl mit- als auch gegeneinander. Das hat zur Folge, dass selbst die besten Analysten und Makroökonomen derzeit überfordert sind und es äußerst schwer ist, alles richtig einzuordnen.

Gleiches gilt für das Konsumverhalten: Die meisten Menschen gehen aufgrund hoher Gas- und Stromrechnungen, steigender Lebensmittel- und Dienstleistungspreise noch achtsamer mit ihrem Geld um. Das bedeutet, dass sie geplante Anschaffungen erst einmal aufschieben. Auch das wird sich – gerade in den ersten sechs Monaten – auf die Kurse auswirken. Wichtig ist, dass es erst einmal keine weiteren bösen und unvorhersehbaren Entwicklungen gibt.

Sie haben die Zinspolitik der EZB angesprochen. Welche Erwartungen haben Sie an die Zentralbank?

Für die EZB ist die derzeitige Lage ein Drahtseilakt und sehr ungemütlich. Viele Volkswirtschaften sind von ihren Entscheidungen abhängig. Das Problem: Jeder Wirtschaftsraum innerhalb der Währungsunion hat ganz eigene Probleme. Zwar ist die EZB losgelöst von jedweder Politik, muss aber dennoch alles berücksichtigen. Die Rufe, die Zinsen weiterhin in großen Schritten zu erhöhen, sind laut.

Allerdings würden in dem Fall die Refinanzierungskosten der verschuldeten Länder steigen. Diese würden die Steuern anheben, was wiederum die Konjunktur dämpft. Es wird interessant, zu sehen, ob die EZB weiterhin in Siebenmeilenstiefeln die Leitzinsen auf 3,5 Prozentpunkt erhöht oder sich dem Ziel in kleineren Schritten nähert.

Welche Branchen könnten für Anleger in diesem Jahr besonders interessant werden?

Bestimmte Branchen lassen sich erfahrungsgemäß zumeist in zwei Bereiche aufteilen: Zum einen gibt es Wirtschaftszweige, die vom Konjunkturzyklus geprägt sind, wie beispielsweise Automobil- oder Rohstoffunternehmen. Zum anderen gibt es Branchen wie die Pharmaindustrie oder Energieversorgung: trotz einer schlechten wirtschaftlichen Lage werden weiterhin Medikamente benötigt und der Strom wird nicht komplett abgestellt. Die Einnahmequellen dieser Unternehmen sind vergleichsweise gesichert.

Unternehmen, deren Geschäftsmodell abhängig von der Konjunktur ist, können attraktiver sein, um hohe Renditen zu erzielen. Anleger dürfen aber keinesfalls nach dem Prinzip „Headline-Investing“ handeln. Sobald die Medien berichten, dass es bei Unternehmen XY bergauf geht, ist es zu spät und der Aufschwung bereits eingepreist. Daher kann es sinnvoll sein antizyklisch zu investieren, Emotionen dürfen keine Rolle spielen.

Wie schätzen Sie den Goldkurs in diesem Jahr ein?

Gold wird wahrscheinlich nie an Anlegerinteresse verlieren. Seit jeher ist der Rohstoff ein anerkanntes Tausch- und Zahlungsmittel, das bisher jede Krise überstanden hat. Selbst wenn eine hohe Inflation und somit eine starke Kaufkraftentwertung eintritt, wird Gold seinen Vermögenswert behalten. Deshalb wird die Nachfrage nach dem Edelmetall mindestens stabil bleiben, tendenziell eher steigen.

Folglich greifen die klassischen volks- und betriebswirtschaftlichen Effekte: Die Nachfrage steigt und mit ihr der Preis. Das wird noch zusätzlich befeuert, weil beispielsweise Logistik und Förderung in Zeiten hoher Inflation und Dienstleistungspreise teurer werden. Also kommt zu einer hohen Nachfrage ein verknapptes Angebot.

 

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